Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 32 (2008)

Verhandlungen mit der (Musik-)Geschichte

Regula Rapp, Thomas Drescher (Hgg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    32
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2010
  • ISBN
    978-3-905786-10-1
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Musikgeschichte; Historische Aufführungspraxis; Satzlehre

VERHANDLUNGEN MIT DER (MUSIK)GESCHICHTE

Dagmar Hoffmann-Axthelm: „Musicus und Cantor“ Kontinuität und Wandel eines Topos durch (mehr als) ein Jahrtausend
„Is vero est musicus, qui ratione perpensa canendi scientiam non servitio operis sed imperio speculationis adsumpsit“. Diese Definition dessen, was ein „musicus“ sei, ist erstmals in der Schrift De institutione musica von Boethius (um 500) überliefert und lässt sich mit dem entsprechenden Wortlaut über etliche Lehrschriften des Mittelalters und der Renaissance bis hin zu Thomas Janovkas Musiklexikon Clavis ad Thesaurum Magnae Artis Musicae (1701) verfolgen. Im Beitrag werden die entsprechenden Textstellen zusammengestellt und daraufhin befragt, was die Autoren weit auseinander liegender Zeiträume veranlasst haben könnte, aus ihren je unterschiedlichen musikalischen Lebens- wirklichkeiten heraus gleichwohl die alte Definition als geeigneten Rahmen für das zu erachten, was für sie ein Musicus (und ein Cantor) sei.

Peter Wollny: „Schöne Italienische Musicalische Kunststücke uf Teutzschem Boden“ Über das Komponieren nach dem Dreissigjährigen Krieg
Anders als es die äusserliche Modernität vieler in der Mitte des 17. Jahrhunderts im protestantischen Deutschland entstandener Stücke nahelegt, orientierten sich die Komponisten dieser Zeit nicht nur weiterhin an bewährten satztechnischen Modellen, sondern häufig auch an konkreten Vorbildern vor allem aus dem italienischen Raum. Für diese höchst praktische Form des Umgangs mit älteren musikalischen Vorlagen und Anregungen lassen sich anhand von Beispielen Johann Rosenmüllers, Alessandro Pogliettis, Vincenzo Albricis und Christian Ritters verschiedene Techniken der Auseinandersetzung ausmachen. 
Diese konnten von der Erweiterung der Stimmenzahl und dem Neuarrange- ment motivischer Bestandteile über die Ausarbeitung ungenutzter polyphoner und kontrapunktischer Möglichkeiten bis hin zur tiefgreifenden Umgestaltung des Satzgefüges reichen. Der Begriff der „Aemulatio“ erweist sich dabei als besonders geeignet, eine Haltung zu beschreiben, die die Achtung vor einem unbedingt studierenswerten musikalischen Erbe mit dem zukunftsweisenden Interesse an der weiteren Ausschöpfung seines affektmässigen und komposi- tionstechnischen Potentials verband.

Christine Fischer: Inszenierte Geschichte. Joseph Haydns und Carlo Francesco Badinis L’anima del filosofo als Gattungspoetik
Joseph Haydns und Carlo Francesco Badinis L’anima del filosofo ossia Orfeo ed Euridice entstand während Haydns Londonaufenthalt Anfang 1791 für das dortige King’s Theatre Haymarket. Zur geplanten Aufführung kam es nicht.
Die statischen Qualitäten, eine anti-dramatische Grundhaltung sowie bewusste Rückbezüge in die Operngeschichte gaben der Forschung zu dieser Oper Rätsel auf, ja bestärkten das lange tradierte Bild von Haydn als unerfahrenem, sich neueren Musiktheater-Strömungen verweigernden Opernkomponisten. Die von Christine Fischer vorgestellte neue Lesart der Oper als Stellungnahme vor der Operngeschichte im Zusammenhang eines Konkurrenzkampfes um den „italienischen Opernmarkt“ in London setzt L’anima del filosofo in ihren Entstehungszusammenhang und öffnet andere Perspektiven auf die besonderen Eigenheiten dieser, wohl Fragment gebliebenen, faszinierenden Oper.

Anselm Hartinger: Erbebildung und Geschichtsrezeption in den Historischen Konzerten und Erinnerungsaufführungen des 19. Jahrhunderts. Überlegungen zur Typologie, Repertoirewahl und Ausstrahlung vergangenheitsbezogener Programmformate
„Historische Konzerte“ und Erinnerungsaufführungen aller Art nahmen nicht nur im Konzertleben des 19. Jahrhunderts breiten Raum ein. Sie wurden auch nachträglich von der Forschung meist in wenig differenzierter Form als Belege für die intensive Beschäftigung der Romantik mit alter Musik herangezogen. Der vorliegende Beitrag versucht auf erweiterter Materialbasis eine Neubewertung des vergangenheitsbezogenen Segmentes der seinerzeitigen Musikpraxis. Eine typologische Unterscheidung von Konzertformen erlaubt es dabei, unterschiedliche Zugänge und Intentionen im Umgang mit älterer Musik herauszuarbeiten und auch den Konsequenzen der damit verbundenen Epochenabgrenzung und Repertoireverfestigung nachzugehen. Gerade die be- rühmten „historischen“ Konzertzyklen des Leipziger Gewandhauses erweisen sich dabei weniger als Schlüsselvorhaben einer Wiederentdeckung verlorenen Repertoires denn als exemplarische Beispiele einer in die Geschichte hinein- projizierten Legitimation gegenwartsbezogener ästhetischer Positionen. Dem- gegenüber lassen sich in meist vereinsartigen Strukturen erste Ansätze einer Verbindung von Quellenforschung, individualisierter Werkpräsentation und pädagogischer Aufbereitung nachweisen, wie sie für die Alte Musik-Bewegung des 20. Jahrhunderts wegweisend wurden. Hinter dem mit den „Perioden“ des musikalischen Historismus konkurrierenden Konzept der „Schulen“ werden dabei Konturen eines pluralistischen Geschichtsbildes im Bereich der Musik greifbar. 

Yvonne Wasserloos: Alt(und)ehrwürdig? Historisches, Traditionelles und Konservatives am Leip- ziger Konservatorium im 19. Jahrhundert
Die Gründung des Leipziger Konservatoriums bedeutete in der Geschichte der musikausbildenden Institutionen Europas einen wesentlichen Durchbruch. Musik sollte aus einer wissenschaftlichen Dimension verstanden und betrachtet werden und somit sowohl von der praktischen als auch der theoretischen Seite gelehrt und erlernt und in der Ästhetik der Leipziger Schule vermittelbar gemacht werden. In dieser Ausprägung fanden sich Ideale des „Klassikers“ wieder, die bis hin zu Palestrina definiert wurden. Die Barockmusik jedoch fand hier weniger Eingang, sondern wurde verstärkt im Kanon der Unterrichtswerke gepflegt und aufgeführt, was als Beitrag zu einer breiten musikalischen Bildung zu verstehen ist. Zunehmend problematisch wirkte sich diese retrospektive Haltung in den Jahrzehnten nach der Gründung des Konservatoriums aus, in der der Vorwurf des Konservatismus zunehmend stärkere Konturen gewann. 

Peter Sühring: „Lupe und Ohr“. Die am Strassburger Institut von 1872 bis 1905 von Gustav Jacobsthal etablierte Wissenschaftskultur und ihre verborgene Vorläuferrolle für historisierende Aufführungen älterer Musik
Die bisher nur unzureichend bekannte Lebensgeschichte des Musikers und Musikforschers Gustav Jacobsthal (1845–1912) sowie die ersten Resultate einer Erschliessung seines umfangeichen Nachlasses werden zum Anlass genommen, sein Wirken in der Wissenschaftsorganisation des deutschen Kaiserreichs neu zu beleuchten. Als akademischer Lehrer in Strassburg von 1872–1905 vertrat Jacobsthal den damals aussichtslosen Standpunkt einer Einheit von praktischer und theoretischer Musikausbildung an den Universitäten. Seine musikprak- tischen Aktivitäten beschränkten sich, nachdem er die musikalische Leitung des Meininger Hoftheaters abgelehnt hatte, auf die Leitung des Strassburger Akademischen Gesangvereins. Seine Untersuchungen zum Rhythmus der ein- und mehrstimmigen Musik des Mittelalters können nicht als Basis der Thesen von Friedrich Ludwigs Schule angesehen werden. Auch in der Beurteilung der Rolle Palestrinas sowie des Instrumentariums bei Monteverdi vertrat er andere als die ihm nachgesagten Ansichten. Seine Forschungen können als direkter Auslöser von Aufführungsversuchen mittelalterlicher Musik in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhundert angesehen werden, die bis zu den von Jacques Handschin 1927 in Zürich, Bern und Basel unternommenen Konzerten reichen.

Martin Kirnbauer: „Tout le monde connaît la Schola“ Eine Spurensuche zur Vorgeschichte der Schola Cantorum Basiliensis
Eine Reihe von neu zugänglich gewordenen Materialien erlaubt einen diffe- renzierten Blick auf die Vorgeschichte der Schola Cantorum Basiliensis und ihre möglichen Vorbilder. Der Beitrag widmet sich zum einen den Ereignissen rund um die Gründung, die zeitlich vor die Aufnahme des Schulbetriebs im November 1933 fallen. Deutlich wird der Anteil, der dabei den meist im Schatten der Gründerfigur Paul Sacher Stehenden zukommt (insbesondere Walter Nef, Arnold Geering und Ina Lohr). Zum anderen werden mit Jacques Handschin (1886–1955) alternative Vorstellungen zum Verhältnis von Alter Musik, Aufführungspraxis und Musikwissenschaft dargestellt, wie sie an der Schola Cantorum Basiliensis seinerzeit so nicht umgesetzt wurden.

Christopher Schmidt: Erinnerungen an Ina Lohr
Was Ina Lohr den Studierenden an der Schola Cantorum Basiliensis mitgab, lässt sich schwer als Theorie und Praxis voneinander abgrenzen; Ausübung und Betrachtung verflochten sich in ihrem Unterricht. An erster Stelle stand für sie die kirchliche Polyphonie zwischen Josquin und Heinrich Schütz, verbunden mit der Einstimmigkeit vom Mittelalter bis hin zu den Liedern Martin Luthers. Auch wer sich in seinem Hauptfach mit der Musik des 18. Jahrhunderts beschäftigte, behielt als Theorieschüler wie als Mitsänger die Musik, die sie vermittelte, in lebendigster Erinnerung.

Markus Jans: Zur Idee und Praxis der Historischen Satzlehre an der SCB
Der Bereich Musiktheorie war an der Schola Cantorum Basiliensis seit ihrer Gründung anders organisiert als an traditionellen Konservatorien und Musik- hochschulen. Doch erst im Zuge einer grossangelegten Lehrplanreform wurde 1970 von Wulf Arlt das Unterrichtsfach Historische Satzlehre eingeführt und zusammen mit Historisch informierter Gehörbildung, Notationskunde und Gregorianischem Choral zu einem integrierten Theoriebereich mit koordi- niertem Vorgehen geformt. Für die historische Satzlehre gab es damals weder konzeptionelle Vorbilder noch Unterrichtserfahrungen. Das Fach musste gänz- lich neu aufgebaut und entwickelt werden. Der vorliegende Aufsatz schildert dessen konzeptionelle Besonderheiten und die Geschichte seiner Entwicklung bis zum Jahr 2009.

Martina Wohlthat: „Ja, das war eigentlich der Hauptinhalt von meinem Leben ...“. Die Institutsgeschichte der Schola Cantorum Basiliensis im Spiegel der Erinnerungen ehemaliger Lehrkräfte
Von Mai bis Oktober 2008 führte die Autorin aus Anlass des 75. Geburtstags der Schola Cantorum Basiliensis Interviews mit früheren Lehrkräften und Mit- arbeitern über ihre Tätigkeit am Basler Lehr- und Forschungsinstitut für Alte Musik. Die Gesprächspartner wussten aus ihrer Lehrtätigkeit und dem Alltag am Institut eine Fülle von Begebenheiten und wertvollen Details zu berichten. Der Beitrag zeichnet anhand der persönlichen Erinnerungen die Geschichte der Schola Cantorum Basiliensis auf und gibt Ausschnitte aus den Interviews wieder. In den Gesprächen kommt die unkonventionelle Unterrichtsgestaltung in den ersten Jahrzehnten an der Schola Cantorum auf authentische Art und Weise zum Ausdruck. Unterrichten und Forschen wurde für die Mehrheit der Befragten zum Lebensinhalt. Die Interviewten ziehen ein positives Resümee ihrer Lehrtätigkeit und ihres Arbeitslebens für und mit der Alten Musik.

Christoph Manasse: Die Schola Cantorum Basiliensis in den 70er Jahren. Ein Jahrzehnt der Neuorientierung
Die 1970er Jahre bedeuten für die SCB eine Periode des Umbruchs und gingen einher mit diversen internen Neuerungen und Reformen. Ausgelöst wurde dies durch einen Generationenwechsel und die Berufung von Wulf Arlt zum neuen Abteilungsleiter der SCB.
Während dessen achtjähriger Amtszeit wurden verschiedene Reformen und Umstrukturierungen umgesetzt, so etwa die Lancierung eines neuen Ausbil- dungsschwerpunktes in Mittelalter und Renaissance, die Schaffung einer neuen Prüfungsordnung und Wegleitung für die Berufsschule sowie die Reorganisation der Leitung. Diese Umstrukturierungen gingen nicht ohne Verwerfungen über die Bühne, konnten letztlich jedoch erfolgreich umgesetzt werden und führten dazu, dass sich die SCB international erfolgreich neu positionieren konnte.

Konstantin Voigt: Gothic und HIP. Sinn und Präsenz in populären und in historisch informierten Realisierungen des Palästinalieds
In den letzten Jahrzehnten hat sich im Bereich Rock-, Folk- und Crossover- szenen ein populäres Pendent zur historisch informierten Aufführungspraxis herausgebildet. Anhand von drei Realisierungen des Palästinalieds von Walther von der Vogelweide untersucht dieser Beitrag die musikalischen Strategien der Vergegenwärtigung verklungener Musik, ihre kulturellen Bedingungen und ihr Verhältnis zur Gegenwart. Im Fokus stehen dabei zunächst die Aufführungen, an denen anhand aktueller Forschungsansätze zu Ästhetik und Aufführungs- analyse gezeigt wird, wie sich die gegenwärtige ästhetische Performanz der Aufführung und der durch das Zitieren von Vergangenheit konstituierte Sinn wechselseitig durchdringen. Im Vergleich der Aufnahmen von Thomas Binkley, In Extremo und Paul Hillier wird dabei ersichtlich, wie das Kriterium der historischen Orientierung als Sinneffekt zurückwirkt auf die ästhetische Präsenz der Aufführung, und welche Perspektiven sich der historisch informierten Praxis im Austausch mit der populären und durch die Abgrenzung von dieser eröffnen können.

Lioba Keller-Drescher: Das Versprechen der Dinge. Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Epistemologie
Die Materialität der Forschung gewinnt ausgehend von der Epistemologie der Naturwissenschaften neuerdings in den Kulturwissenschaften an Bedeutung. Thematisiert werden hier die komplexen Zusammenhänge, in die die Dinge in den historischen und gegenwartsbezogenen Kulturwissenschaften verwickelt sind. Auf der Grundlage eingeführter Analysemodelle der Empirischen Kulturwissenschaft, erweitert um Positionen der philosophischen Phänomenologie und der Wissenschaftstheorie, versucht der Beitrag Aspekte einer kulturwissenschaftlichen Epistemologie des Materiellen herauszuarbeiten. Diskutiert wird der Status der Dinge selbst, ihre Rolle im Forschungsprozess, ihre spezifische Geschichtlichkeit und die Bedingungen und Ansprüche einer kulturwissenschaftlichen Analyse des Materiellen.

Pascal Valois: French Guitar Performance Practice between 1790 and 1810: a new Perspective
Although it had been mostly overlooked by scholars and performers alike, Paris boasted an active guitar scene during the 1790s and the 1800s. Among the most important guitarists of that period we find Charle Doisy (?–c1807), Trille LaBarre (fl. end of the18th), and Pierre Jean Porro (1750–1831). This article examines aspects of their approach to interpretation: improvisation, portamento, harmonics, articulation, vibrato, arpeggiation, appoggiaturas and their related ornaments. The principal sources of the research are the guitarists’ tutors and works.