Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 33 (2009)

Oper als «Gesamtkunstwerk». Zum Verhältnis der Künste im barocken Musiktheater

Regula Rapp, Thomas Drescher (Hgg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    33
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2012
  • ISBN
    978-3-905786-11-8
  • Typ
    Buch

OPER ALS "GESAMTKUNSTWERK". ZUM VERHÄLTNIS DER KÜNSTE IM BAROCKEN MUSIKTHEATER

Lydia Goehr: Oper. Agon und Paragone
Der Essay untersucht das Verhältnis von Oper zu Prinzipien des Wettstreits zwischen den Künsten und Medien. Mit kurzen einleitenden Überlegungen zu Opern von Jean-Baptiste Lully, Antonio Salieri, Wolfgang Amadé Mozart, Richard Strauss u. a. wird ein thematischer Rahmen abgesteckt, um anschlies- send vertieft auf die zentrale Frage einzugehen: Welche spezifische Rolle spielte Musik in der theatralen Kunstform Oper? Spezifische Musikkonzepte, die in den Opern verhandelt wurden, werden zur ambivalenten Rolle Apolls in der Mythologie sowie zum Diskurs der Geburt von Oper in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt der Essay auf, welch zentrale Rolle der Musik im paragonalen Verhandlungsfeld „Oper“ zukommt.

Andreas Kotte: „A wood near Athens“. Zum Spiel- und Schauraum Bühne vom 16. bis ins 19. Jahrhundert
Wird die Neutral- und Plattformbühne als Shakespeare-Bühne im Zuge der Ent- faltung bürgerlichen Theaters vervollkommnet? Oder ist sie der einzige Typus, der bestehen bleibt, auch wenn technische Erfindungen die Verwandelbarkeit von Bühnen erhöhen? Kann der Streit um den Vorrang einer Kunst innerhalb einer Synthese der Künste als die ästhetische Voraussetzung der Renaissance für die romantische Idee vom Gesamtkunstwerk angesehen werden? Der Vortrag schlägt von der italienischen Bildbühne über Angelo Ingegeneris Bestimmung der Bühnenkunst einen Bogen zu Richard Wagner und zeigt, was geschieht, wenn Einzelkünste Theater dominieren: Die Veränderung durch Spiel weicht einer Veränderung durch Technik, Musik oder Drama. Die gewollte Synthese der Künste gerinnt in der Praxis zu einer Addition der Künste.

Bernhard Jahn: Die Künste als Schwestern? Das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der Künste in der Oper als Problem für die zeitgenössische Operntheorie und -praxis
Der Beitrag geht am Beispiel von Hamburger Opernprologen der Frage nach, welche Konzepte in der Zeit um 1700 das Verhältnis der Künste zueinander regelten. Neben einer durch die Gesetze des Decorum festgelegten Ange- messenheit, die das Miteinander der Künste bestimmt, findet sich auch die Möglichkeit, die Künste im Sinne eines absichtlichen Decorumsbruches ge- geneinander zu setzen. Durch das Gegeneinanderwirken der Künste können in den Oper um 1700 Verfremdungseffekte erzeugt werden, die denen des modernen Regietheaters nahekommen.

Christine Fischer: Tier und Macht. Oper im Spannungsfeld von Natur und Zivilisation
Im Kontext aktueller kulturwissenschaftlicher Fragestellungen nach der Funkti- on von Tierrepräsentation in historischen Gesellschaftsformen nimmt der Text die Funktion der Bühnenpräsenz von Tieren in barocken Musiktheaterformen in den Blick. Weltdarstellungen auf der Opernbühne lag ein Bestreben nach Ordnung und Systematisierung der Vielfalt der Schöpfung nach ideologischen Idealen zugrunde, das in frappierend ähnlicher Form auch in Wunderkammern und fürstlichen Menagerien angewandt wurde und in besonderem Masse die Übergänge zwischen Natur und Kunst auslotete. Antiken Vorbildern von Herr- schern, Herrschaftsdarstellung in Triumphzügen und Aufzügen zu Schlachten folgend fanden lebende Tiere, aber zu einem Grossteil auch Nachbauten oder Verkleidungen von Tieren zu exotischen Arten, ihren Weg auf die Opernbühne. Sie faszinierten mit ihrer Präsenz in ungewohntem Kontext einerseits dadurch, dass sie Untertanenverhalten zeigten, indem sie sich in den Ablauf der Auf- führung einfügten; andererseits dadurch, dass sie mithilfe von Verkleidung oder Mechanik „realitätsnah“ vergegenwärtigt wurden.

Sebastian Hauck: La finta pazza in Paris. Zum Verhältnis von Commedia all’improvviso und Oper
Am Beispiel der Oper La finta pazza und ihrer Aufführung 1645 in Paris lassen sich zwei Aspekte des Verhältnisses von Commedia all’improvviso und Oper genauer erläutern: Der unmittelbare Kontext der Aufführung zeigt, wie von den comici (höchstwahrscheinlich) eine Symbiose beider Theaterformen angestrebt wurde, sodass Schauspieler und Sänger gleichzeitig in ihren jeweiligen Schauspielstilen agierten. Die grosse Wahnsinnsszene der Protagonistin Deidamia rekurriert auf die grossen Bravourstücke der italienischen Schauspieler(innen) wie Isabella Andreini, für die Wahnsinnsdarstellungen zum festen Repertoire gehörten.

Sebastian Werr: Verführung und Disziplinierung. Strategien der kollektiven Vermittlung von Hierarchien beim Münchner Fest von 1722
Dass die Oper der „Ergötzung“ des Hofes diente, liegt auf der Hand – aber wie fügt sich dies in die in der Hofkultur allgegenwärtigen Bestrebungen, der Repraesentatio majestatis Ausdruck zu verleihen und so den Untertanen die Einsicht in die Unterordnung unter den Herrscher zu vermitteln? Ausgehend von der These, dass die Erzeugung von Emotionen durch die Hofkultur im allgemeinen und Oper im besonderen genau dieser Zielsetzung dienten, will der Beitrag am Beispiel des Münchner Hochzeitsfests von Kurprinz Karl Albrecht mit Maria Amalia von Österreich im Jahre 1722 Möglichkeiten und Grenzen der historischen Emotionsforschung und ihrer Anwendung in der Opernforschung aufzeigen.

Panja Mücke: Öffentlichkeit und Kommunikationssystem. Das Publikum höfischer Opern
Die zeremonielle Funktion des Opernbesuchs führte zur an vielen Höfen sehr ähnlich gehaltenen Sitzordnung nach dem jeweiligen Rang – der Status der Opernbesucher spiegelte sich in ihrem Sitzplatz. Somit wird die spezifische Zusammensetzung des höfischen Opernpublikums als eine Variante der aus- ser- und innerhöfischen Kommunikation greifbar und kann in Zusammenhang mit Medien wie Kupferstichen, Zeitungen, Notenkopien und -drucken betrachtet werden. In dieser Gesamtschau zeigt sich, dass die höfische Oper in ihrer im 17. und frühen 18. Jahrhundert vorherrschenden Organisationsform als komplett vom Hof finanzierter Institution ein Element der herrscherlichen Kommunikationsstrategie bildete, das auf die Legitimierung der fürstlichen Macht in allen sozialen Schichten gerichtet war.

Martina Papiro: Vom Schauraum zur Bildtafel. Die druckgraphische Inszenierung der Florentiner Festopern La Flora 1628 und Le nozze degli dei 1637
Festopern wurden in Form von Libretti mit beigefügten Bildtafeln bewahrt und im Kontext der Hofpublizistik der Öffentlichkeit und der Nachwelt zugänglich gemacht. Die Bildtafeln in diesen Drucken zeigen die Bühnenräume mit den Szenendekorationen und allen eingesetzten Theatermaschinen. Dabei changieren sie zwischen der faktischen Dokumentation und einer idealisierten Darstellung der Aufführung.
Anhand der Radierungen zu den Florentiner Festopern von 1628 und 1637 anlässlich der Hochzeiten von Mitgliedern der regierenden Medici-Familie werden die Konventionen dieser Bildgattung vorgestellt. Die punktuelle Untersuchung der Inszenierungsstrategien soll zeigen, ob und wie im zweidimensionalen Bildmedium das höfische Musiktheater als Zusammenspiel der Künste vergegenwärtigt wurde.

Bruno Forment: Surrounded by Scenery. What Disney Can Teach Us about Visual Immersion in the Dramma per Musica
Against established knowledge, which conceives of the Baroque stage as a uni- form, neatly mechanized ensemble of wings, borders, and backdrops, multiple sources suggest that seventeenth- and eighteenth-century set designers added various pièces détachées to the standard machinery. Thus, free-standing flats were applied manually (by the stagehands) in irregular positions all over the stage floor, and large perforated (or transparent) canvases were mounted on frames and slid (rather than dropped) towards center stage. The present paper will throw light on these lesser-known techniques, while also focusing on their dramaturgic relevance for both the dramma per musica and one of its twentieth-century heirs: the art of animation. Midway the 1930s, it was the Baroque’s multiplane effects that Disney and his competitors adopted in order to overcome the two-dimensionality of the animated picture so detrimental to its visual-dramatic effect. An unexpected continuity between Metastasian opera and Snow White thus lies in both art forms’ cultivation of scenic per- spective according to the original, Latin definition of the term: the display of see-throughs in which the spectator’s eye (and mind) could immerse itself completely.

Helena Langewitz: Der abwesende König oder Was macht das Goldene Zeitalter aus? L’Arcadia conservata, eine Azione teatrale zur Genesung des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz im Jahre 1775
Die Genesung des Kurfürsten Carl Theodor von einer schweren Erkrankung bot 1775 den Anlass zur Aufführung der Azione teatrale L’Arcadia conservata im Schwetzinger Gartentheater, die als „Allegorique à la Convalescence d’Électeur“ zu verstehen ist. Am Beispiel des in Gefangenschaft geratenen Arkadierkönigs Evander führt der kurpfälzische Hofdichter Mattia Verazi das Schicksal eines Herrschers vor Augen, der in Lebensgefahr schwebt. Eine besondere Wirkung erzielt er dadurch, dass er nicht die Perspektive des Königs einnimmt – dieser tritt bis zuletzt nicht auf –, sondern diejenige der um ihren Herrscher bangenden Untertanen. Die durch die Bühnenfiguren schmerzlich erlebte Abwesenheit des Herrschers nimmt damit Bezug auf die Situation der kurpfälzischen Bürger während der Erkrankung ihres Kurfürsten. Dabei wird König Evander trotz seiner realen Abwesenheit von der Bühne durch Text und Musik solcherart veranschaulicht, dass er in der Empfindungswelt seiner Untertanen verankert wird und gleichsam anwesend erscheint. So wurde auch während der Erkran- kung Carl Theodors dessen öffentliche Wahrnehmung durch den Aspekt der Abwesenheit massgeblich mitbestimmt.

Wendy Heller: Der liebende Theseus. Die Darstellung weiblicher Leidenschaft auf der Münchner Bühne (1662)
1662 feierten der Kurfürst von Bayern und seine Gemahlin die Geburt ihres Sohnes mit einem der spektakulärsten musiktheatralischen Ereignisse des damaligen Jahrhunderts. Die Feier umfasste drei unterschiedliche Arten szenischer Darbietung, alle in der Ausstattung von Francesco Santurini, mit (nicht erhaltener) Musik des Hofkomponisten Johann Kaspar Kerll und auf Libretti von Pietro Paolo Bissari: Fedra incoronata, ein Drama per musica nach venezianischem Vorbild, Antiopa giustificata, ein Drama guerriero mit Umzügen, Tableaux und nachgestellten Schlachten auf künstlichen Seen, und zum Schluss Medea vendicativa, eine Feuerwerksoper, die auf einer schwimmenden Bühne auf der Isar gespielt wurde. Zwar ist jeder Teil dieser Trilogie nach einer weiblichen Protagonistin benannt, als Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden dient jedoch der Held Theseus. Gesang, Tanz und ausgeklügelte Bühneneffekte zeigen dabei die Folgen einer Liebe zu einem oft zweifelhaften Helden auf. Der Artikel erkundet die Darstellung weiblichen Verlangens und männlichen Heldentums im Rahmen dieses opulenten Theaterevents, wobei nicht nur die erhaltene Dichtung (einschliesslich der damit verbundenen musikalischen Implikationen), sondern auch die Beschreibungen und Stiche von Santurinis Inszenierung, die im Libretto überliefert sind, in den Blick genommen werden.

Luca Zoppelli: Zeitliche Diskontinuität, optische Diskontinuität? Fragen zu einer Dramaturgie des Exemplarischen
In der Malerei von Tiepolo und von seinen Zeitgenossen wurde immer wieder auf eine gewisse Unabhängigkeit der dargestellten Personen von der Narration hingewiesen: Jede Figur ist weitgehend isoliert und unabhängig als Verkörpe- rung eines Affekts oder einer exemplarischen Haltung dargestellt. Das durch die Kombination solcher Haltungen definierte Beziehungsgefüge hat weniger einen narrativen, als vielmehr einen konzeptuellen Charakter und bildet ein Interpretationsmodell für das menschliche Verhalten. Die Dramaturgie der heroischen Oper jener Zeit wiederum basiert mit ihren geschlossenen Nummern auf der Isolation, Klassifikation, Analyse und der Montage von emotionalen Reaktionen: Das Dispositiv ist identisch, nur dass es sich in der Zeit, und nicht im bildnerischen Raum entfaltet. Dies ist im französischen Bereich weniger ausgeprägt, wo sich sowohl ein mehr ‚linearer‘ und narrativer visueller Stil wie auch eine Operndramaturgie findet, die weniger auf der formalen Diskontinuität gründet.

Michael Maul: „Behilflicher Monsieur“, „Liebende Venus“ und „Lustiger Arlecchino“. Die Opernarie auf dem Weg zum Gassenhauer
Entgegen der ‚Lehrbuchmeinung‘ hat die ‚liederlose Zeit‘ in Deutschland, also die Phase zwischen den gedruckten Liedersammlungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts und den 1740er Jahren, ein umfangreiches Repertoire an nur handschriftlich überlieferten Liedern hervorgebracht. Die Ursprünge dieser mitunter weitverbreiteten Stücke liegen zumeist im Dunkeln. Doch verfolgt man die Spur zurück, so erweisen sich manche Stücke als ‚Ohrwürmer‘ aus den jungen bürgerlichen Opernhäusern, die in reduzierten und textlich erweiter- ten Fassungen noch gesungen wurden, als man längst nichts mehr von ihrem eigentlichen Kontext wusste und die Bühnen, für die sie einst entstanden, längst geschlossen waren. So gesehen erweisen sich die Opern Georg Philipp Telemanns, Reinhard Keisers, Gottfried Heinrich Stölzels oder Johann David Heinichens als ‚Liedspender‘ für eine ganze Generation.

Jens Roselt: Archäologie der Ereignisse? Performativität und Theaterhistoriographie
Ausgehend von den Innovationen der Performance Art und der Theoriebildung der Linguistik und Gendertheorie hat sich im letzten Jahrzehnt eine kulturwissenschaftliche Neuperspektivierung vollzogen, die als performative Wende bezeichnet wurde. Im Hinblick auf das Theater rückte so der Ereig- nischarakter von Aufführungen gegenüber dem Werkcharakter von Texten und Inszenierungen in den Fokus. Diese Forschungen waren in erster Linie durch die Arbeiten der zeitgenössischen performativen Künste inspiriert, insofern die Erlebnisweisen, Erfahrungen und Wahrnehmungen thematisiert wurden, die das Gegenwartstheater produzierte und provozierte. Doch in dem Masse, wie das aktuelle und individuelle Erleben einer Aufführung als Basis der Analyse deklariert wird, kann die Auseinandersetzung mit historischen Aufführungen ins Hintertreffen geraten, wenn sie aus methodischen Gründen nicht von vorneherein ausgeschlossen wird. Der Beitrag geht von der These aus, dass die Umorientierung auf den „Untersuchungsgegenstand“ Aufführung auch Hinweise und Perspektiven für die Auseinandersetzung mit historischen Aufführungen liefern kann. Hierzu werden die zentralen Aspekte einer Ästhetik des Performativen bzw. der daraus abgeleiteten Methode der Aufführungsanalyse rekapituliert. Ziel des Beitrags ist es nicht, eine neue Methode zu destillieren, sondern zu einer neuen Perspektive auf mitunter allzu vertraute Phänomene zu ermutigen.

Christine Fischer, Johannes Keller und Francesco Pedrini: Wissenschaft und Aufführung. Zur Inszenierungsarbeit an Penelope la casta (Alessandro Scarlatti/Matteo Noris, Napoli 1696)
Neben der wissenschaftlichen Annäherung an italienische Oper des 17. und 18. Jahrhunderts bildet die praktische Arbeit einen Schwerpunkt der SNF- Förderungsprofessur von Christine Fischer. Ein erstes grosses Praxisprojekt hatte im Mai 2009 Premiere: Die neuzeitliche Erstaufführung von Alessandro Scarlattis/Matteo Noris’ Penelope la casta (Neapel, 1696). Im Rahmen der Inszenierungsarbeit galt es, die Grenzen und Möglichkeiten einer vertieften Dramaturgie auszuloten, die von der Beschaffung der Quellen über die Ana- lyse von Text und Musik bis hin zum Erkunden der konkreten historischen Aufführungsumstände in Neapel und dem Nachspüren eines zeitgenössischen Verständnisses von Musik, Text und Szene vielfältige Aufgaben übernahm.
Ziel der Inszenierungsarbeit war es, die historische Annäherung als Grund- lage einer Übersetzung in die heutige Aufführungssituation heranzuziehen, die barocke und heutige Elemente vereint.
Der Text möchte einen Einblick in ausgewählte Aspekte des auch wissenschaft- lich geprägten Weges zur Inszenierung geben und das Verhältnis der Künste zueinander im Hinblick auf die Tagungsthematik und aus der Perspektive praktischer Inszenierungsarbeit heraus konturieren.