Buch

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 26 (2002)

Singen und Gesangspraxis in der Alten Musik

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Reihe/Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    26
  • Ort
    Winterthur
  • Verlag
    Amadeus
  • Jahr
    2003
  • ISBN
    978-3-905049-94-7
  • Typ
    Buch
Schlagwörter

Gesangstechnik; Falsetto; Historische Aufführungspraxis;

I. SINGEN UND GESANGSPRAXIS IN DER ALTEN MUSIK

John Potter: Past perfect & future fictions
Eine kurzgefasste Geschichte der Alte Musik-Bewegung mit besonderer Bezugnahme auf die englischen Sänger; Vorschläge für einen neuen Umgang mit der Interpretation von Quellen, indem auf die Wichtigkeit der frühesten Aufnahmen in der Geschichte des Stils vor dem 20. Jahrhundert hingewiesen wird; die Rolle der zeitgenössischen Ästhetik bei der Definition Alter Musik; Gefahren der Über-Korrektheit (das "Wiedererfinden" von Klangfarben und Stilen, die es nie gegeben hat); die Forderung nach einer Musikwissenschaft der Sänger (oder des Singens).

Richard Wistreich: Das Ausführen und Lehren historisch informierten Singens - wen kümmert es?
Die Alte Musik-Bewegung hat während der letzten 30 Jahre von Grund auf die Art verändert, wie historische westliche klassische Musik gespielt wird; und sie hat ein berufliche Legitimierung entstehen lassen, die heute als Rechtfertigung für einen Prozess benutzt wird, der als eine Art Umsturz des status quo begonnen hat. In diesem Aufsatz wird die Auffassung vertreten, dass auf dem Gebiet des Singens keine vergleichbare "Revolution" stattgefunden hat, sondern höchstens, trotz einiger Gesten, mit denen Vorurteile im Hinblick auf Gesang angefochten werden, bestehende konservative Paradigmata klassischen Singens - ich nenne sie "übernommene Traditionen" - nach wie vor bestimmen, was im Konzertsaal oder in einer Aufnahme gestattet ist. Umgekehrt findet sich dies in der Art gespiegelt, wie "Alte Musik-Singen" zugelassen und im Konservatorium gelehrt wird; dort ist es nach wie vor eine Beigabe zum eher engen Konstrukt des "klassischen Singens". Der Aufsatz bietet einige Vorschläge für Forschungsgebiete und Experimente, die Alte Musik-Sänger von diesen Restriktionen befreien könnten.

Benjamin Bagby: Beowulf, die Edda und die Aufführung mittelalterlicher Epik. Anmerkungen aus der Werkstatt eines rekonstruierend rekonstruierten "Geschichten-Sängers"
Ausgehend von seiner eigenen Erfahrung und Forschung als Sänger mittelalterlicher Epik lässt sich der Autor von mündlich überlieferter Dichtung inspirieren (daher die hommage an Albert Lords Singer of tales), um den Gegenstand zu beschreiben, mit dem er sich konfrontiert sieht - die Rekonstruktion europäischer, mündlich überlieferter Epik aus dem 8. bis 11. Jahrhundert - d.h. Praktiken, über die es, wenn überhaupt, nur spärliche Quellen gibt. Er bietet eine Einschätzung der Probleme, mit denen sich ein moderner Künstler auseinandersetzen muss, und er schlägt eine mögliche Lösung für die Rekonstruktion der verlorenen Aufführungstraditionen der mittelalterlichen isländischen Edda vor. Seine Arbeit mit Modi, die ihn auf der Suche nach Spuren isländischer musikalischer Praktiken nach Island führte, bringt auch Antworten auf grundsätzliche Fragen über die Rolle der Metrik beim Singen der alten germanischen Stabreim-Verse. Schliesslich analysiert er den Gebrauch von Stimme und Instrumenten im Zusammenhang mit der Rekonstruktion verlorener musikalischer Traditionen. Hierbei widmet er besondere Aufmerksamkeit dem frühesten Harfentyp und den Stimmungen, die der "Geschichten-Sänger" bei der Begleitung seiner Geschichten benutzt haben könnte.

Katharina Livljanic: Giving Voice to Gregorian Chant. Or Coping with the Spirit of Globalization / Gregorianischen Choral singen. Oder Mit dem Geist der Globalisierung zurecht kommen
Geschrieben aus der Perspektive einer Sängerin und Forscherin, möchte dieser Artikel die Choral-Klangbilder überprüfen, wie wir sie (mehrheitlich) vom 19. Jahrhundert ererbt haben. Zwischen Sängern, Geistlichen, Musikologen und Liturgiewissenschaftlern hin- und hergerissen, löst der Choral fortgesetzt höchst unterschiedliche Zugänge zu seiner Ausübung aus. Als ich an diesem Aufsatz arbeitete, war ich in die Vorbereitung eines Forschungs- und Konzert-Projektes involviert, das sich "Choral-Kriege" nannte. Hiermit sollten Fragen beantwortet werden, die die karolingische "Globalisierung" des liturgischen Gesangs und die Auswirkungen betrafen, die sie im Universum der Choral-Traditionen des 9. Jahrhunderts bewirkten. Beim Recherchieren des musikalischen Materials und der wissenschaftlichen Literatur sowie beim Anhören von Aufnahmen, die im 20. Jahrhundert entstanden waren, wurde es immer deutlicher, dass die konträren Theorien im Hinblick auf Entstehung und Ausführung des Chorals sowie der zwanghafte Glaube an einen Choral-"Archetypus" nicht nur eine karolingische Realität, sondern zumindest auch eine solche des 19. und 20. Jahrhunderts waren. Diese konflikthaften Anschauungen werden wahrscheinlich so lange existieren wie das Choralsingen.

Pia Ernstbrunner: Vocis enim factor [...] ab anima movetur. Die menschliche Stimme im Fachschrifttum des Spätmittelalters.
Der Beitrag bietet einige Klarstellungen zum stimmphysiologischen Wissen des (Spät-) Mittelalters, sowie zur Terminologie und zum aussermusikalischen Hintergrundwissen bezüglich Stimme, Gesang und dessen Ästhetik im Musikschrifttum des 13./14. Jahrhunderts. Als Quelle für diese Erläuterungen dienen vornehmlich Texte, die sich mit aristotelischen Schriften auseinandersetzen: Aristoteles-Kommentare von Albertus Magnus und Thomas von Aquino sowie solche des Mediziners Pietro d'Abano werden in diesem Beitrag mit Aussagen des Musiktheoretikers Engelbert von Admont in Beziehung gebracht, dessen Lehre von den distinctiones und vom motus im Gesang Anregungen zum Verständnis mittelalterlicher Gesangspraxis geben könnte.

Alessandra Fiori: Einfache Mehrstimmigkeit singen
In italienischen Quellen des 15. Jahrhunderts stellt das Singen einfacher Mehrstimmigkeit eine Tradition dar, die anpassungsfähig und als solche charakteristisch für mündlich überlieferte Repertoires ist. Hierfür spricht auch die Existenz vielstimmiger Gesangspraktiken im Rahmen liturgischen Singens, wie sie sich heute noch in eher usuell orientierten Aufführungspraktiken Italiens finden. Dieser Beitrag möchte die stilistische Herkunft gewisser Lamentationen und anderer Stücke der Karwoche aus der Tradition des Psalmsingens in einfacher Polyphonie sowie deren Gemeinsamkeiten im rituellen Kontext mit der artifiziellen franko-flämischen Polyphonie aufzeigen. In der einfachen Polyphonie tauchen Psalmen in den Quellen nur gelegentlich auf, aber es darf angenommen werden, dass diese Praxis weithin bekannt war und keiner Niederschrift bedurfte. Die Ideen im Hinblick auf die Ausführung dieser Gesänge sind abgeleitet von Beobachtungen an heute noch üblichen Aufführungspraktiken vergleichbarer Repertoires, wobei besondere Aufmerksamkeit den gedächtnisorientierten Aspekten gewidmet wird.

Jeffrey Gall: "Wer nicht sprechen kann, der kann noch viel weniger singen" Prosodische Strukturen und freies Verzieren in Händels italienischen da capo-Arien
Sänger, die bei italienischen da capo-Arien des frühen 18. Jahrhunderts Verzierungen improvisieren möchten, können kaum auf Anweisungen in den zeitgenössischen Traktaten oder in heutigen Forschungsbeiträgen zur Aufführungspraxis zählen, da diese meist Verzierungs-Formeln in den Mittelpunkt stellen. Pier Francesco Tosis Traktat, die einzige theoretische Quelle zum verzierten Gesang im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, warnt vor übertriebenem freiem Verzieren, lässt aber auch durchblicken, dass mangelndes Ornamentieren phantasielos sei. Tosi empfiehlt den Sängern, beispielhafte Vorbilder zu studieren, um beim Verzieren den "richtigen Ton" zu treffen. Solche Vorbilder sind leicht zugänglich in den Ausgaben von Händels da capo-Arien, die seit den 1970er Jahren publiziert werden und die Verzierungen vom Komponisten selbst enthalten. In einer dieser Arien, "Affanni del pensier", zeigt Händels besonderer Gebrauch von passi und passagi, dass er sich über gewisse metrisch-rhythmische Besonderheiten der italienischen Sprache im Klaren war, Besonderheiten, die auch Johann Mattheson in seinem Vollkommene[n] Kapellmeister als Wegmarken beim Komponieren verzierter Melodien in der Vokalmusik darstellt. Diese Richtlinien liefern heutigen Sängern potentiell ergiebige Modelle für das freie Verzieren von da capo-Arien der Händel-Zeit.

Stefan Brandt: Gleicher Text, unterschiedliche Realisierungen. Zum Einfluss des sängerischen Personals auf Arienkompositionen bei Porpora und Händel
Der Blick auf das Verhältnis von Sänger und Komponist in der italienischen Opera seria des frühen Settecento ist noch immer durch Zeugnisse der Operndiskussion des 18. Jahrhunderts bestimmt, nach denen der Komponist kaum mehr als ein Zulieferer des Vokalvirtuosen gewesen sei. Der vorliegende Beitrag unternimmt einen Vorstoss, diese These an konkreten musikalischen Beispielen zu prüfen. Die Untersuchung der Minotaurus-Szene aus den Opern Arianna e Teseo und Arianna in Creta von Nicola Porpora und Georg Friedrich Händel zeigt zwar durchaus Indizien für einen Einfluss der Sänger Nicolini und Carestini. Doch wird zugleich deutlich, dass kompositorische Rücksichtnahme auf den Sänger nicht automatisch zu einer Ausweitung virtuoser Momente führen musste. Im Falle Porporas und Nicolinis spricht sogar vieles für eine komplexe Interaktion zwischen zwei theatererfahrenen Musikern, die in der Konsequenz zu einer bühnenwirksamen Bereicherung der Opernhandlung führte.

Andrew Parrott: Falsetto and the French "une toute autre marche"
Neal Zaslaw kam 1974 zum Schluss, dass der barocke haute-contre in heutiger Terminologie ein (hoher) Tenor war, der falsetto "nur in wenigen Ausnahmefällen" benutzte. René Jacobs vertrat demgegenüber 1983 die Auffassung, dass dieser Tenor falsetto frei angewandt habe, "wann immer er diese Klangfarbe im Dienste der Notwendigkeit eines besonders expressiven musikalischen Ausdrucks haben wollte". Ein Vergleich französischen und italienischen Singens im 18. Jahrhundert zeigt eine klare Polarisierung des Geschmacks: Während die italienischen Stimmen ihren Umfang mit Hilfe des falsetto-Singens geschickt (und oft beträchtlich) nach oben ausweiteten, nutzten die Franzosen ihre Brustregister lediglich so weit wie möglich; sie empfanden es als "unnatürlich", weiter zu gehen.

Jörg-Andreas Bötticher: "Singend denken"- und denkend singen? Zur Wechselbeziehung barocker Vokal- und Instrumentalpraxis
Bisher haben sich Instrumentalisten meistens den guten Sänger "zum Muster" genommen und waren bemüht, singend zu denken und zu spielen. Viele Aussagen belegen die imitatio vocis als Ansatzpunkt und Ziel des Instrumentalspiels. Die differenzierte Instrumentalausbildung in der Alten Musik, verbunden mit dem hochspezialisierten Instrumentenbau, hat aber inzwischen hinsichtlich klanglicher und stilistischer Fragen zu einem Vorsprung der Instrumente gegenüber der Gesangspraxis geführt. Deshalb ist es dringend angebracht, von Seiten der Gesangs die Instrumente und ihre Spielpraxis neu zu befragen und denkend zu singen. Ausgehend von Klangbeschreibungen der die Stimme imitierenden Instrumente und Orgelregister (vox humana) wird gezeigt, wie sich die Vorstellungen eines Idealklanges von 1600 bis1800 wandeln. Daraus entstehen neue Anregungen für die historically informed practice.

Thomas Seedorf / Bernhard Richter: Befragung stummer Zeugen. Gesangshistorische Dokumente im deutenden Dialog zwischen Musikwissenschaft und moderner Gesangsphysiologie
Der Beitrag ist ein Versuch, aus historischen Dokumenten gewonnene Belege zur Gesangspraxis aus zwei Perspektiven, einer musikwissenschaftlichen und einer stimmphysiologischen (phoniatrischen), heraus zu interpretieren. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen Wortquellen des 18. Jahrhunderts, insbesondere die Anleitung zur Singkunst von Johann Friedrich Agricola, die unter den Aspekten Atmung, Stimmgebung, Klangbildung und -formung sowie Register untersucht werden.

John Butt: Historische Aufführungspraxis und die postmoderne Befindlichkeit
In diesem Beitrag wird versucht, die essentielle kulturelle Verschiedenheit zwischen der Zeit der Gründung der SCB im Jahre 1933 und unserer heutigen Epoche zu skizzieren - den Übergang zu etwas, was manchmal als "postmoderne Befindlichkeit" bezeichnet wird. Daraus ergibt sich die These, dass gerade der mit der Modernisierung einhergehende technische Fortschritt uns einer Situation ohne die tiefen historischen Wurzeln ausgesetzt hat, die die westliche Gesellschaft bis ins späte 20. Jahrhundert geprägt haben. So ist die historische Aufführungspraxis eine der Strategien, die wir benutzen, um das fehlende Gefühl für historische Verwurzelung zu kompensieren. In einer Epoche, in der wir unser historisches Erbe so leicht abschütteln können, ist dies ein Trost, eine Form von "Rückverzauberung" angesichts einer entzauberten Welt. Natürlich bringt es die Gefahren von Oberflächlichkeit und blosser Orientierung an den Bedürfnissen des Marktes mit sich, aber die HIP-Bewegung ist auch eine enorme Chance, viele Bereiche der westlichen Musiktradition erneut zu beleben.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 2000/2001, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 201-304