Book

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 17 (1993)

Orchesterpraxis in klassischer Zeit

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    17
  • Ort
    Winterthur
  • Publisher
    Amadeus
  • Year
    1994
  • ISBN
    978-3-905049-60-2
  • Type
    Book
Keywords

Besetzung; Klassik; Orchester; Mozart;

I. ORCHESTERPRAXIS IN KLASSISCHER ZEIT

Neal Zaslaw: Die Ursprünge des klassischen Orchesters
In diesem Beitrag werden 12 das klassische Orchester bestimmende Charakteristika vorgeschlagen: 1. Es basiert auf einem Bestand von Instrumenten, die der Violin-Familie angehören. 2. Die Streicher sind mehrfach, jedoch in jeder Stimme unterschiedlich stark besetzt. 3. Für gewöhnlich gibt es weniger Bläser als Streicher. 4. Es lassen sich feste Instrumentationen für gewisse Zeiten, Orte und Repertoires nachweisen. 5. Akkordische Continuo-Instrumente sind entweder vorhanden oder auch nicht; und wenn ja, dann können sie entweder gespielt werden oder auch nicht. 6. Die Bass-Linie wird für gewöhnlich - aber nicht immer - im 16'-Register verdoppelt. 7. Der Personal-Bestand ist konstant und die Struktur ist hierarchisch. 8. Die Orchestrierung ist nicht generisch (z.B. nach Fundament- bzw. Ornament-Instrumenten), sondern idiomatisch, nach kontrastierenden bzw. alternierenden Klangfarben vorgenommen. 9. Die Kräfte sind flexibel verteilt. 10. Es herrscht Orchesterdisziplin. 11. Für Konzerte wird normalerweise eine Probe angesetzt, für Opern viele. Tanzmusik wird ohne Noten gespielt. 12. Das Orchester befindet sich im Zentrum der kulturellen Ereignisse, zu deren Ausführung es beiträgt. Oft symbolisiert es Wohlstand, Macht und Kontrolle. Die Sichtung von mehr als 500 Bildern des 17. und 18. Jahrhunderts legt nahe, dass es ein Balkon, ein Orchestergraben, eine gestufte Sitzordnung oder der ebene Boden ist, mit denen als Haupt-Standort mit entsprechender Akustik zu rechnen ist. 

Thomas Drescher: Johann Friedrich Reichardt als Leiter der Berliner Hofkapelle
Reichardts Rolle als Leiter der Berliner Hofkapelle (1776-1794) ist noch kaum beleuchtet worden. Nach dem Tod Friedrichs II. (1786) reorganisierte er das sehr konservative Ensemble, das sich durch Vereinigung mit dem Orchester Friedrich Wilhelms II. erheblich vergrössert hatte. Zeitgenössische Berichte überliefern eine radikale Änderung der Aufstellung, bei der der Leiter das Direktionscembalo verliess und als Dirigent vor das Orchester an die Bühnenrampe trat. In seiner Schrift über die "Pflichten des Ripien-Violinisten" von 1776 gibt Reichardt Einblick in spieltechnische Details des Orchester-Geigers. Ein Text Friedrich Nicolais von 1781 aus Wien erhellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Zentren der Orchesterkultur. In Reichardts Schrift spiegelt sich unterschwellig der fundamentale Unterschied zwischen Orchesterspiel und solistischer Praxis wider, ein Gegensatz, aus dem die Aufführungen jener Zeit ihre Spannung bezogen und der in der heutigen Praxis - auch historisch orientierter Aufführungen - kaum mehr Beachtung findet.

Clive Brown: Streicher-Praktiken im klassischen Orchester
Im klassischen Orchester gab es viele Unterschiede zwischen solistischem und orchestralem Streichinstrumenten-Spiel, von denen einige aus zeitgenössischen Lehrschriften ersichtlich sind. Von Orchestermusikern erwartete man nicht, dass sie in hohen Lagen spielten und daß sie ex-tempore Verzierungen anbrachten (das galt auch für Portamento und - wahrscheinlich - für Vibrato). Vielmehr sollten sie im Hinblick auf Tempo und Dynamik einheitlich spielen und übereinstimmende Stricharten benutzen. Gleichfalls erwartete man viele von Solisten ausgeübte Bogentechniken nicht im Orchester. Das Spiel mit gesprungenem Bogen, der in diesem Repertoire bei heutigen Orchestermusikern häufige Verwendung findet, war damals wahrscheinlich nicht üblich. 

John Spitzer: Spieler und Stimmen im Orchester des 18. Jahrhunderts
In diesem Aufsatz werden Grösse und Verteilung der Musiker im Orchester des 18. Jahrhunderts untersucht. Die Fragestellung lautet: Spielte ein oder spielten zwei Musiker üblicherweise aus einer Stimme? Hierbei werden vier Arten von Beweismaterial untersucht: 1. Musiker-Namen, die auf Stimmen geschrieben sind; 2. musikbezogene Angaben wie z.B. solo-tutti oder divisi; 3. die Zahl der verfügbaren Orchestermusiker im Verhältnis zur Anzahl der in den entsprechenden Orchester-Archiven überlieferten Stimmen. 4. Bilder spielender Orchester. Die Schlussfolgerung lautet, daß "ein Musiker pro Stimme" vorkam, dass dies aber nicht der im Orchester des 18. Jahrhunderts üblichen Aufführungspraxis entsprach. 

Manfred H. Schmid: Zur Mitwirkung des Solisten am Orchester-Tutti bei Mozarts Konzerten
An Hand des autographen Befundes von Werken Mozarts (u.a. Stellen aus den Klavierkonzerten KV 238, 415 und 466) und Michael Haydns zeigt der Autor auf, wie fragwürdig die heute mit Selbstverständlichkeit geübte Konzert-Praxis ist, Tutti-Einträge in Solostimmen als Anweisung für den Solisten zu interpretieren, diese mitzuspielen. 

Eugene Wolf: Über die Zusammensetzung des Mannheimer Orchesters von etwa 1740 bis 1778
Trotz seines legendären Rufes hat das Mannheimer Orchester von Seiten der Forschung niemals die vertiefte Aufmerksamkeit erhalten, die es verdient. Und - was vielleicht am meisten überrascht - es gibt bislang keine Studie, die der Grösse und Zusammensetzung des jeweils die Aufführungen betreuenden Orchesters im Verhältnis zur gesamten kurfürstlichen Kapelle (d.h. zum Bestand der für das Gesamtpotential an Aufführungen angestellten Musiker) gewidmet ist. Der Aufsatz beginnt mit dem zweiten Punkt - mit der Untersuchung der unterschiedlichen Quellentypen im Hinblick auf Größe und Organisation der Hofkapelle (vor allem Almanache und Besoldungslisten) sowie Schlussfolgerungen, die sich aus diesem Material für die Zeit von 1723-78 ziehen lassen. Die Frage nach der tatsächlichen Grösse des Orchesters ist weit schwieriger zu beantworten, weil direkte Quellen wie Rotationslisten, Bilder und Augenzeugen-Berichte für das Mannheimer Orchester fast gänzlich fehlen. Allerdings haben intensive Untersuchungen des Mannheimer Aufführungs-Materials auf anderer Ebene Aufschlüsse geboten, die eine annähernde Antwort auf diese Frage ermöglichen. Ausserdem steht wahrscheinlich der zahlenmässig unterschiedliche Anteil der für jede Instrumenten-Kategorie angestellten Musiker in Beziehung zur wechselnden Grösse des Orchesters. 

Ingeborg Allihn: Wechselbeziehungen zwischen Besetzungsmöglichkeit, kompositori-schem Verhalten und Programmgestaltung ab 1740 im Berliner halböffentlichen Konzertleben
Zwischen 1740 und 1800, zwischen "aufgeklärtem Absolutismus" und Restauration, hat sich das Bürgertum in Berlin sein geistig-kulturelles und soziales Terrain erobert. Dieses lag im Bereich der Musik - ausserhalb der etablierten monarchistischen Einrichtungen - in öffentlichen und halböffentlichen Musizierkreisen, in denen Berufsmusiker neben Laien sassen. Während die Kgl.-Preussische Hofkapelle nur zögernd Veränderungen in der Besetzung und im Klangideal realisierte, agierten die Musiziergemeinschaften, allen voran das Concert spirituel und das Concert für Kenner und Liebhaber, progressiv. Der Klang verschob sich zugunsten der Holzbläser, das Bassfundament wurde verstärkt, die Sitzordnung verändert. Hierauf reagierten die Berliner Komponisten mit neuen Werken. 

Ortrun Landmann: Die Entwicklung der Dresdener Hofkapelle zum "klassischen" Orchester 
Die Dresdener Hofkapelle kann neben allgemein bekannten Glanzzeiten auf Epochen und Kapellmeister-Persönlichkeiten verweisen, die kaum weniger Geschichte gemacht haben, so etwa die Zeit zwischen Beethovens Geburt und Tod. Nach einer vom Siebenjährigen Krieg bewirkten Zäsur entwickelte sich die Kapelle unter J.G. Naumann, J. Schuster, F. Paer, F. Morlacci und C.M. von Weber erneut zum Elite-Instrument, jetzt mit Merkmalen eines "klassischen" Orchesters. Diese Merkmale werden in den vorliegenden Ausführungen in Gestalt von 10 Thesen vorgestellt: Zahl und Qualifikation der Spieler in Wechselwirkung mit der Kompetenz ihrer Kapellmeister; Vielfalt, Umfang und Qualität der aufgeführten Musik; die Schaffung eines festen Repertoires bei stetem Wahrnehmen der neuesten Entwicklungen; die Bindung der Musiker an ein Instrument. Diese und weitere Merkmale bezeichnen das klassische Orchester als Idealtyp wie auch speziell die Dresdener Hofkapelle, die den erforderlichen Parametern wohl vom frühest möglichen Zeitpunkt an entsprochen hat.

II BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 1991/92, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 237-330