Book

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 27 (2003)

Alte Musik zwischen Geschichte und Geschäft

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    27
  • Ort
    Winterthur
  • Publisher
    Amadeus
  • Year
    2004
  • ISBN
    978-3-905049-96-1
  • Type
    Book

I. ALTE MUSIK ZWISCHEN GESCHICHTE UND GESCHÄFT

Ernst Lichtenhahn: Zeitfragen. Über Geschichtsverständnis in Praxis und Vermittlung
Das Verhältnis zur Alten Musik ist geprägt von der Spannung zwischen historischer Ferne und ästhetischer Unmittelbarkeit. Während im 19. Jahrhundert, etwa in der Sicht Eduard Hanslicks, die Aufführung Alter Musik nur sinnvoll schien, wenn dabei vom "Recht des Lebenden" Gebrauch gemacht wird, forderte Arnold Schering um 1930 dezidiert, die Toten wieder in ihre Rechte einzusetzen und die "persönliche Note" hinter die" wissenschaftliche Erkenntnis" zurücktreten zu lassen. Der damit angelegte Konflikt zwischen künstlerischer Freiheit und wissenschaftlichem Dogmatismus scheint heute teilweise beigelegt. Die Praxis hat eine Stilsicherheit gewonnen, die eine "neue Unmittelbarkeit" gewährleistet, während die Wissenschaft gelernt hat, starren Dogmatismus durch Dialektik zu ersetzen.

Peter Gülke: Nistet der Kommerz schon in unseren Interpretationen?
So unbestritten es ist, dass der Kommerz in der Musik nistet, so schwierig ist die Antwort auf die Frage, wie er das tut. Der Interpret findet sich im Spannungsfeld einer objektiv gegebenen Verpflichtung dem überlieferten Text gegenüber sowie der subjektiven Forderung nach einmaliger, aus dem Augenblick geborener Aufführung. Die daraus historisch immer wieder entstandene Polarisierungen zwischen "objektiver" (z.B. Toscanini, z.B. "Neue Sachlichkeit") und "subjektiver" (z.B. Furtwängler, z.B. "romantischer" Zugang) Interpretation scheinen heute überwunden. So hat sich die Interpretation Alter Musik vom Dogmatismus fixierter Vorschriften zum Spielfeld unterschiedlichster Interpretationskonzepte gemausert, Konzepten, die allerdings, inzwischen auf hohem Niveau stagnierend, einander heftig konkurrieren, was letztlich auf Kosten des "Gemeinten", der "Seele" geht. Der Interpret historischer Werke muss unter dem Druck der Tonträgerindustrie schnell liefern, was u.a. zu Lasten der vertiefenden Kraft des Wissens um die Interpretationsgeschichte eines Werkes geht, d.h. des Erfahrungsspektrums früherer Interpretationsansätze. o verlieren wir bei aller angestrebten Werktreue mit unseren durch hohe technische Standards geprägten Sinnesorganen mehr und mehr den Kontakt zum Boden eines historischen Werkes, das diese Standards nicht kannte. Was tun? Weitermachen!

Dagmar Hoffmann-Axthelm: "Aus der Seele" oder" wie ein abgerichteter Vogel"? Versuch über künstlerische Authentizität
Künstlerische Authentizität ist eine unabhängig von historisch informierter Aufführungspraxis existierende Qualität. Entwicklungspsychologisch wurzelt sie in der präverbalen, synästhetischen Welt der frühen Kindheit. Zu ihr hat sich der "authentische" Künstler einen besonders klaren Zugang bewahrt, und von hier aus baut er mit seinem künstlerischen TUn eine Brücke zum entsprechenden Empfindungsraum seines Publikums. Ausserdem bietet der Beitrag eine hypothetische Antwort auf die Frage an, warum die historisch orientierte Aufführungspraxis unserer musikalischen Gegenwart in besonderem Masse "authentisch" (und damit auch gut verkäuflich) erscheint.

Anthony Rooley: Virtuelle Realität oder: Der Tontechniker als Alchemist? Über die Aufnahme-Industrie
Manche grundlegende philosophische Fragen werden nur selten gestellt. Dieser Beitrag versucht, einige wenige dieser Fragen zu stellen, wenn auch aus einem eigenwilligen Blickwinkel. Auf dem Wege von hochfliegender Hoffnungen einer im Werden begriffenen Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin zu den verzweifelten Nöten ratloser Unterhaltungsriesen am Ende des Jahrhunderts ist irgendwo unterwegs die Musik verlorengegangen. Daneben entdecken leidenschaftliche Sammler, dass sie mehr Ware haben, als sie je imstande sind zu hören und schliesslich kämpfen junge Künstler darum, ihre erste "vanity-CD" [eine CD, die nie einen Gewinn abwerfen wird] mit dem Ziel aufzunehmen, sich auf einem übersättigten, müden Markt zu präsentieren. Gleichzeitig plädiert dieser Aufsatz dafür, dass der eigentliche Prozess, unser historisches musikalisches Erbe aufzunehmen (und zwar so, wie es überliefert ist, und nicht so, wie es vorgeblich kurzlebigen kommerziellen Forderungen dienen soll), noch kaum begonnen hat. Wir brauchen eine Revolution der Einstellung: Die Aufnahmetechnik muss erstens lernen, im Dienste der "live performance" zu stehen und zweitens, ein wahrhaftiges Bild unserer musikalischen Überlieferung zu gestalten. Zur Zeit ist es nicht angesagt, sich der kurzlebigen, verzweifelten Gier eines vormals monströs fetten Industriezweigs zu unterwerfen.

Martin Elste: Alte Musik als Neue Musik . Zum unausgesprochenen ästhetischen Programm im Spannungsfeld kommerzieller Medialität
Die Entwicklung der Alten Musik ist eng verknüpft mit der Idee des Fortschritts, und zwar nicht des technologischen Fortschritts, sondern des Fortschritts hinsichtlich der Erkenntnis historischer Fakten. Doch geht es nicht nur um Erkenntnis an sich, sondern spätestens seit der Globalisierung der Musikkultur auch darum, sich durch die Darstellung und Legitimierung des Anderen, im Zusammenhang mit dem Fortschrittsgedanken dann des Neuen, das auf der Erkenntnis des Alten beruht, von den anderen Musikern abzusetzen und diese Differenz nicht nur als etwas Anderes zu präsentieren, sondern sie scheinbar objektivierend zu legitimieren. Anhand ausgewählter Beispiele aus rund siebzig Jahren wird dieser Weg dargestellt.

Hubert Herkommer: Reproduziertes Mittelalter. Die faksimilierte Handschrift zwischen Wissenschaft und Geschäft
Wie bei den Aufführungen Alter Musik verlangt auch der Zugang zu den illustrierten Handschriften des Mittelalters nach dem vermittelnden Eingriff des Zeitgenossen, der - in diesem Fall über Reproduktionen - das Vergangene vergegenwärtigt. Dass solche Reproduktionen, deren vollendedste Form die heutigen Faksimile-Editionen darstellen, sich dem Einfluss ihrer eigenen Gegenwart nicht entziehen können, zeigen am eindrücklichsten die frühen Durchzeichnungen einzelner Miniaturen des Manesse-Codex. Auch wenn die Werbung es suggerieren möchte, lässt sich die Aura des einmaligen Kunstwerks auch vom besten Faksimile nicht in unsere Zeit übertragen, in der diese Handschriften ihrem ursprünglichen Gebrauchskontext unwiderruflich entfremdet sind. Doch die Faksimiles erlauben Annäherungen an eine verlorengegangene Welt.

Nicoletta Gossen: Im Namen des Mittelalters, oder Der postmoderne Mittelaltermusiker
Seit den 50er Jahren erlebt die Musik des Mittelalters eine fortschreitende Popularisierung durch die Verbreitung der Tonträger. Was ursprünglich ein Repertoire für Spezialisten wie Philologen und Musikhistoriker war, ist heute Teil des Musikmarktes. Was bedeutet das für die Aufführungspraxis dieser Musik? Inwieweit versuchen die Interpreten, dem Publikum entgegenzukommen? An Hand eines Beispiels, das von verschiedenen Ensembles eingespielt wurde, versucht die Autorin zu zeigen, wie unterschiedlich sich die Interpretationen des gleichen Stücks präsentieren und was die Gründe dafür sein könnten. Die heutige Aufführungspraxis zeigt gewisse eingefahrene Gewohnheiten, die es zu hinterfragen gilt, um zu einer künstlerischen Authentizität in diesem Bereich zu gelangen, die nicht in überkommenen Konventionen stecken bleibt.

Markus Jans: Historisch informierte Analyse
Historisch informierte Analyse versucht, im Gegensatz etwa zu der von theoretischen Systemen geleiteten, musikalische Kunstwerke vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu verstehen und zu deuten. Dabei ist alles, was an Kontext überliefert ist, von Bedeutung, selbstverständlich auch die Aussagen der historischen Theoretiker beziehungsweise der theoretisierenden Musiker. Die wichtigste Voraussetzung für diese Art von Analyse ist jedoch die intime Kenntnis des Idioms, des Vokabulars, der Grammatik und der Syntax einer musikalischen Sprache. Darin inbegriffen ist die Kenntnis dessen, was zu einer gegebenen Zeit der Norm entspricht. Nur mit solcher Kenntnis können Abweichungen wahrgenommen und gedeutet werden, sei es als rhetorische Geste im Einzelfall oder als Zeichen einer sich anbahnenden generellen Stilveränderung.

Kai Köpp: Information und Interpretation. Warum der Alte-Musik-Markt nicht auf Quellenforschung verzichten kann
Das historische Klangbild dient immer häufiger nur einem persönlichen Interpretationsstil, der sich zu einer Äusserlichkeit zu verselbständigen droht, wenn er auf echte historische Orientierung verzichtet und auf dem schnellebigen Markt bald verbraucht ist. Hier setzt die Diskussion um die Legitimität historischer Aufführungspraxis an, die jedoch durch den Hinweis auf die lange Tradition der historisch orientierten Interpretation entschärft werden kann. Seit dem 18. Jahrhundert herrscht nämlich der Konsens, dass Werke, die man nicht selbst komponiert hat, so aufzuführen seien, wie der jeweilige Verfasser sie sich vorgestellt habe. Heute stehen der historisch orientierten Aufführungspraxis mit Quellenausgaben und Nachbauten von historischen Instrumenten ungeahnte Mittel zur Verfügung. Diese Informationsmasse ist jedoch in der Praxis, die unterschiedliche historische und nationale Stile nebeneinander zu beherrschen beansprucht, kaum zu bewältigen. Ein Schaubild soll dabei helfen, Informationen zu differenzieren und nach ihrer musikalischen Auswirkung zu ordnen. Vier Anwendungsbeispiele zu J. S. Bach, J. A. Hasse, L. v. Beethoven und R. Wagner zeigen, dass es aus dem Dilemma von Information und Interpretation einen Ausweg gibt - die Konzentration auf den Einzelfall. Die so gewonnenen, überraschend konkreten und musikalisch relevanten Informationen sind geeignet, den Wiedererkennungswert der Musik gegenüber demjenigen eines persönlichen Interpretationsstils zu stärken.

Anselm Gerhard: Willkürliches Arpeggieren - ein selbstverständliches Ausdrucksmittel in der klassisch-romantischen Klaviermusik und seine Tabuisierung im 20. Jahrhundert
Eine verblüffende Fülle von Belegen aus Klavierschulen (unter anderen von Clementi, Cramer und Czerny), aus Aufführungsberichten, Erinnerungen, aber auch aus der Frühgeschichte der Reproduktion von Musik macht wahrscheinlich, dass im 19. wie im frühen 20. Jahrhundert das nicht vorgeschriebene, "willkürliche" Arpeggieren in der Klaviermusik gang und gäbe war. Umgekehrt ist es erstaunlich, wie selten zum Beispiel bei Beethoven ein Arpeggio ausdrücklich vorgeschrieben ist. Einiges scheint dafür zu sprechen, dass beim Wechsel vom Cembalo zum modernen Hammerklavier zwischen etwa 1730 und etwa 1810 an eine selbstverständliche Praxis des Musizierens angeknüpft wurde, obwohl die Übertragung einer instrumentenspezifischen Technik des Cembalo-Spiels auf ein technologisch völlig anders konzipiertes Tasteninstrument auf den ersten Blick nur als widersinnig bezeichnet werden kann. Erklärungsbedürftig ist freilich auch, warum solche Fragen in unserer an "authentischen" Interpretationen interessierten Zeit bisher fast kein Interesse gefunden haben. Hier führt nur die Reflexion auf Möglichkeiten und Grenzen einer historisch informierten Aufführungspraxis weiter. Ideologiekritische Überlegungen scheinen unverzichtbar, wenn es darum geht, die Vorlieben unserer eigenen Zeit in einer breiteren historischen Perspektive zu bestimmen.

II. BIBLIOGRAPHIE DER NEUERSCHEINUNGEN ZUR HISTORISCHEN MUSIKPRAXIS 2001/2002, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM, 149-252