Book

Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 13 (1989)

Abwege und Abgründe in alter Musik

Peter Reidemeister (Hg.)

  • Serie
    Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis
  • Band
    13
  • Ort
    Winterthur
  • Publisher
    Amadeus
  • Year
    1990
  • ISBN
    978-3-905049-44-2
  • Type
    Book
Keywords

Monteverdi; Historische Musikanschauung; Saitenklavier; Nagelgeige

I. ABWEGE UND ABGRÜNDE IN ALTER MUSIK

Lorenz Welker: Claudio Monteverdi und die Alchemie.
In einem Sonett aus dem Jahre 1643 wird der verstorbene Monteverdi als "Gran professor della Chimica" gefeiert, und auch ein Briefwechsel von 1625/26 (darunter ein autographes Rezept für die Verbindung von Gold mit Blei sowie über Beschaffenheit und Veredelung des Quecksilbers) belegt, dass Monteverdi praktizierender Alchemist war. Alchemistisches Denken dürfte in Monteverdis Familientradition gelegen haben: Der Vater war Wundarzt und der Sohn erhielt seine Ausbildung als Schulmediziner von führenden Gelehrten, die neben ihrer artistischen Ausbildung auch einen hermetischen Hintergrund hatten. Direkte Zusammenhänge zwischen Musik und Alchemie lassen sich freilich nur sparsam beobachten. Auch Monteverdi scheint eher am "Goldkochen" als an der esoterischen Ausprägung der Alchemie und ggf. ihrem Zusammenwirken mit der Musik bzw. einem esoterischen Gleichklang der beiden interessiert gewesen zu sein.

Dagmar Hoffmann-Axthelm: Bach und die Perfidia iudaica
Die vieldiskutierte Symmetrie der Juden-Turbae in der Johannes-Passion wird als musikalisches Emblem für das in der traditionellen katholischen Liturgie als "perfidia" bezeichnete, in Luthers judenfeindlichen Schriften mit "Verstocktheit" übersetzte Festhalten der Juden an ihrem Glauben gedeutet. Bach, der als protestantischer Kantor mit der Judenpolemik Luthers und seiner theologischen Nachfolger vertraut war, verband den alten Topos des Judenhasses mit der musikalischen Figur der "Perfidia", durch die mittels strenger, ggf. auf Kosten textlich-musikalischer Feinheiten (Textunterlegung) durchgezogener Wiederholungen der Affekt der Verstocktheit ohrenfällig gemacht wird. Die symmetrisch angeordneten Judenchor-Paare spiegeln in ihrer Polarisierung zu den Arien und Chorälen mit musikalischen Mitteln die ausgrenzende Position der lutherischen Theologie (nicht nur) der Bach-Zeit: fides christiana gegen perfidia iudaica - christlicher Glaube gegen jüdischen Unglauben.

Peter Reidemeister: Johann Gottfried Müthels "Technische Übungen" oder Von der Mehrdeutigkeit der Quellen
Die beiden autographen Sammlungen in der Berliner Staatsbibliothek wurden nicht von Müthel selbst, sondern erst von späterer (Bibliothekaren?) Hand mit dem Titel "Technische Übungen" versehen. Entsprechend ist "Technik" nur ein Aspekt des Materials, das bei oberflächlicher Betrachtung und aus der Perspektive heutiger Technik/Gehalt-Spaltung ein eher chaotisches Gemisch heterogener musikalischer Fragmente darzustellen scheint. Eine genauere Analyse zeigt aber, dass die Sammlungen Beispiele für den musikalischen Satz neben solchen fürs Fingertraining enthalten und damit als spätes Beispiel in den Traditionsbereich der alten Musikausbildung gehören. Diese reicht bis zu Conrad Paumann zurück und trennte nicht zwischen kompositorischen und technischen Lehrinhalten: Das Üben erfolgte durch Improvisation und Komposition, und im Komponieren und Improvisieren verbesserte man gleichzeitig die Fingerfertigkeit.

Peter Benary: Vom Als-ob in Musik und Musikanschauung des 18.Jahrhunderts
Das Kunst- und Kulturprinzip des Als-ob findet sich um 1750 besonders stark ausgeprägt. Den Bezugspunkt bildet vor allem der Naturbegriff. Ein vokaler Grundzug bestimmt die Instrumentalmusik in der Nachahmung von Sprechen und Singen, wie die Melodielehren der 1750er Jahre, das Instrumentalrezitativ und die Kadenz im Solokonzert zeigen. Ein Unikum ist H.W. von Gerstenbergs Vokalfassung einer Klavier-Fantasie von C.Ph.E. Bach. In der Auseinandersetzung mit der Nachahmungsästhetik von Ch. Batteux war Kaspar Ruetz wichtig. In der Nachahmung tritt das Als-ob besonders deutlich zutage. Auch die Interpretationspraxis sollte den vokalen Grundzug der Musik des 18.Jahrhunderts beachten.

John Henry van der Meer: Gestrichene Saitenklaviere
Auf dem Gebiet der Saiteninstrumente kann eine Kombination von ausgehaltenem Ton und den Möglichkeiten dynamischen Nuancierens und Vollgriffigkeit nur mit einem gestrichenen Saitenklavier verwirklicht werden. Die Studie behandelt die Beschreibung von gestrichenen Saitenklavieren von Hans Haiden, Nürnberg (seit 1575), ferner die von Athanasius Kircher (1650) und Caspar Schott (1674) beschriebenen Instrumente bis hin zu entsprechenden Versuchen des späten 18.Jahrhunderts unter Einbezug des einzigen erhaltenen gestrichenen Saitenklaviers von Raymundo Truchado (1625). Das Streichen kann durch umlaufende Räder, umlaufende Pferdehaarbänder oder durch wirkliche Streichbögen erfolgen. Auch Kombinationsinstmmente von gestrichenem Saitenklavier, Cembalo (ev. Hammerklavier) und Orgel (Kircher, Schott, Todini, Greiner) werden berücksichtigt. Die vielen Experimente münden in die zwischen 1750 und 1825 ersonnenen Versuche, hauptsächlich mit gestrichenen Idiophonen. Beide, gestrichene Saitenklaviere und gestrichene Idiophone, haben das experimentelle Stadium nie verlassen.

Michael Jappe, mit einem Beitrag von Paul Reichlin: F.W. Rusts Quartett für Nagelgeige und ...
F.W. Rust, in dessen Musik sich Bach-Tradition und deutsche Empfindsamkeit in "ganz eigener Manier" mischen, schrieb ein Quartett für Nagelgeige und Streicher. Dieses Instrument wird anhand der verfügbaren Quellen sowie eines Restaurationsberichts von J.P. Reichlin beschrieben als halbkreisförmiger Resonanzkörper, in den 12 und mehr Metallstifte in stufenweiser Tonfolge eingelassen sind, die mit einem rauhen Streichbogen in Schwingungen versetzt werden. Klanglich ähnelt das Instrument der Glasharmonika oder der Flöte.

Martin Elste: Bildungsware Alte Musik
Unter der Leitung von Curt Sachs entstand 1930 eine 12-Platten-Serie mit historisierendem Anspruch. Diese Platten waren der in Deutschland erste Versuch, in einem halbwegs systematisch-schlüssigem Aufbau die Musik der vergangenen Epochen als altes, historisches Klanggeschehen zu dokumentieren. Sachs' Auswahl folgte dem damals allgemein akzeptierten Kanon von Musikdenkmälern, ohne im Detail philologische Sorgfalt walten zu lassen. Sachs' Konzeption wurde nicht nur durch die Kurzatmigkeit der Plattenspieldauern, sondern vor allem durch das gelegentliche Rekurrieren auf aus historischer Sicht inadäquates Notenmaterial ad absurdum geführt. Durch diskologische Recherchen wird nachgewiesen, dass eine nicht freigegebene Aufnahme irrtümlicherweise dann doch veröffentlicht wurde.

II. SCHRIFTENVERZEICHNIS ZUM ARBEITSBEREICH HISTORISCHER MUSIKPRAXIS 1987/88, ZUSAMMENGESTELLT VON DAGMAR HOFFMANN-AXTHELM