Die bilingualen Lieder des Codex Buranus.
Musikalische, literarische und aufführungspraktische Fragestellungen
Einige der lateinischen Liebeslieder im Codex Buranus (um 1230) weisen jeweils am Ende zusätzliche mittelhochdeutsche Strophen aus der Tradition des Minnesangs auf. Die bilinguale Form dieser Lieder ist in keinem anderen Manuskript überliefert. Die adiastematischen Neumen, die diese Stücke gelegentlich enthalten, können zwar nicht in ein modernes System von Notenlinien und Schlüsseln transkribiert werden, geben aber zahlreiche Details über eine bis heute nicht klar definierte Vokalität preis.
Die erste Phase dieser Arbeit besteht in einer systematischen philologischen Untersuchung des Korpus von 47 zweisprachigen Liedern, von denen 18 mit Neumen versehen sind. Ziel ist es, die Genese der Lieder zu erhellen: Handelt es sich bei diesen hybriden Liedern um das Ergebnis einer Kontrafaktur, einer Kompilation, oder vielmehr um eine (Re-)Komposition sui generis, die über den sprachlichen Kontrast hinaus eine poetisch-musikalische Identität und eine performative Funktion aufweist?
Die Methodik verbindet literatur- und musikwissenschaftliche Perspektiven. Die kritische Untersuchung der Textüberlieferung und die Identifizierung literarischer Verfahren (z. B. Intertextualität, Ellipsen, Wechsel der poetischen Stimme) im gesamten Korpus sollen Hinweise auf das «Funktionieren» des Liedes in seiner zweisprachigen Dimension liefern. So können wir hypothetisch – trotz lückenhaften Wissens über die historische Aufführungssituation – die Wirkungsintention einer gesungenen Aufführung auf ein Publikum konturieren, das wahrscheinlich selbst bilingual war. Auf musikwissenschaftlicher Ebene soll die paläographische und semiologische Untersuchung zu einem besseren Verständnis der Vokalität führen, auf die sich die Neumen beziehen. Das Verhältnis zwischen der musikalischen Notation und den Merkmalen der lateinischen rhythmischen Dichtung, die heute noch allzu oft von der musikwissenschaftlichen Forschung getrennt wird, und der poetischen Deklamation des Minnesangs wird im Mittelpunkt stehen.
Durch diese sich ergänzenden Perspektiven soll die Studie dazu beitragen, die scheinbaren Widersprüche, auf die der gängige Diskurs zur Beschreibung des soziokulturellen Kontexts des Codex Buranus verweist, in Frage zu stellen. Lässt sich behaupten, dass die sprachlichen Kontraste nicht Gegensätze, sondern Interdependenzen offenbaren, etwa zwischen der lateinischen Kultur der Kleriker und der volkssprachlichen Kultur der Laien? Lassen sich daraus Rückschlüsse auf die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des zweisprachigen Repertoires, aber auch des Codex Buranus insgesamt ziehen?
Die zweite Phase der Arbeit wird der musikpraktischen Erforschung dieses Repertoires gewidmet sein. Wenn bestimmte Lieder ursprünglich als Einheit konzipiert und wahrgenommen wurden, erscheint es im Sinne der historischen Aufführungspraxis logisch, sie auch heute in dieser Form zu singen – oder zumindest klanglich zu erproben. In diesem Sinne sollen plausible Melodien vorgeschlagen werden, indem die philologischen Ergebnisse in praktischen Experimenten ausgewertet werden.
Diese Dissertation ist Teil des SNF-Projekts «Carmina Burana Online» und am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel eingeschrieben.