Einführung zum Projekt «Ina Lohr»

Veröffentlicht: 05.09.2016     Autor/in: Anne Smith

Forschungsprojekt

Ina Lohr (1903–1983)

Zitierweise

Anne Smith, "Einführung zum Projekt «Ina Lohr»". Forschungsportal Schola Cantorum Basiliensis, 2016.
https://forschung.schola-cantorum-basiliensis.ch/de/forschung/ina-lohr-project/einfuehrung.html (Abgerufen am TT MM JJJJ)

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Heute ist Ina Lohr (1903-1983) wohl nur noch wenigen Baslern und einigen Niederländern bekannt. Schon kurz nach ihrer Ankunft in Basel wurde sie 1930 Paul Sachers Assistentin bei seiner Arbeit mit dem Basler Kammerorchester, eine Anstellung, die sie mehr als 50 Jahre lang innehatte. Aus dieser Zusammenarbeit heraus war sie 1933 auch – zusammen mit Paul Sacher, Arnold Geering und Walter Nef – an der Gründung der jetzt international bekannten Schule für Alte Musik, der Schola Cantorum Basiliensis beteiligt. 2014 begann ein Forschungsteam (Jeremy Llewellyn, Anne Smith, Kelly Landerkin, und Jed Wentz) ihr Leben und Wirken zu untersuchen im Rahmen des Projekts «Ina Lohr (1903-1983), an Early Music Zealot: Her Influence in Switzerland and the Netherlands» an der Schola Cantorum Basiliensis, Hochschule für Alte Musik/FHNW mit der Unterstützung des SNF. Ziel des Projekts ist, Ina Lohrs Rolle beim Aufbau und Erfolg dieser Institutionen zu ergründen und diese Informationen in Bezug zu verschiedenen musikalischen Reformbewegungen des 20. Jahrhunderts und spezifisch zu den Praktiken der Alten Musik der schweizerischen und holländischen Schulen auszuwerten.

Ina Lohr, 1903 in Amsterdam geboren, studierte Geige am Muziek-Lyceum Amsterdam, und schloss dort 1929 mit einem Lehrdiplom ab. Um sich von den Anstrengungen des Studiums zu erholen, fuhr sie nach Davos, erlitt aber einen Schwächeanfall im Zug und blieb fast durch Zufall in Basel und wurde 1942 sogar Baslerin. Sehr früh lernte sie dort Paul Sacher kennen – mit entscheidenden Folgen für ihre weitere musikalische Laufbahn. 1930 wurde sie seine Assistentin; das wirkliche Ausmass ihrer Beteiligung an den Vorbereitungen für die Aufführungen des BKO von alten sowie modernen Werken ist bisher unbekannt gewesen. Gleichzeitig war sie an der Schola Cantorum Basiliensis während der ersten dreissig Jahre konzeptionell und praktisch für sämtliche Theoriefächer sowie für Hausmusik zuständig. Rückblickend gilt sie als diejenige Kraft, welche die Schola in dieser Zeit zusammenhielt.

Ihre ganze Arbeit war begleitet von einer tiefen Religiosität. Sie war an der schweizerischen Singbewegung sowie an der Einführung des Probebands des neuen Kirchengesangbuches beteiligt. Sie unterrichtete die Theologiestudenten in evangelischer Kirchenmusik und Liturgie an der Schola und erhielt 1958 sogar einen Ehrendoktor in Theologie von der Universität Basel. Wegen dieser Tätigkeiten wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg nach Holland für verschiedene Workshops zur Reform der protestantischen Kirchenmusik eingeladen. Dort war sie so erfolgreich, dass zahlreiche Musiker wie Gustav Leonhardt, Jan Boeke und Kees Vellekoop nach Basel kamen um bei ihr zu studieren. Ein paar Jahre später folgten ihnen Eric Ericson und Sven-Erik Bäck, die eine ähnliche musikalische Erneuerung in Schweden anstrebten. Gleichzeitig suchte die Bewegung der Alten Musik allmählich grössere Professionalisierung, wollte sich befreien von der Ideologie des Dilettantismus, der die Hausmusik substantiell definierte, was unter anderem dazu beitrug, dass Ina Lohrs Name heute kaum mehr bekannt ist.

Die Forschungen des Projekts haben aufgezeigt, wie spezifisch niederländische Aspekte von Ina Lohrs musikalischer Ausbildung – besonders in Bezug auf die Reform der katholischen wie protestantischen Kirchenmusik – in die Schweiz mitgebracht, transformiert und wieder nach Holland zurückgebracht wurden. Im Verlauf dieses Prozesses wurden viele nationale, religiöse, stilistische und chronologische Grenzen überwunden oder vielleicht geradezu ignoriert, verwischt oder missachtet. Das Bewusstsein über diese verschiedenen Einflüsse auf die Entwicklung der Alte Musik-Bewegung im 20. Jahrhundert bringt ein neues Verständnis hervor für unsere heutige Praxis, ihre Herkunft und ihre Grenzen.