Einführung
Der Regierungsantritt von Louis XIV im Jahr 1661 bildet eine Zäsur auch in der Musikgeschichte. In allen kulturellen Bereichen strebte der Sonnenkönig danach, Künste und Wissenschaften nicht nur zu fördern, sondern ihnen eine eigenständige französische Ausrichtung zu geben, um eine Vormachtstellung Frankreichs auch im kulturellen Bereich anzustreben. In Oper, Kirchen-, und Kammermusik (samt der dazugehören Clavecinmusik) entwickelte bzw. erhärtete sich in den Jahrzehnten nach 1660 eine spezifisch französische Musiksprache mit eigenen Gattungsmerkmalen und vielfältigen stilistischen Besonderheiten.
Ein französischer Barockstil müsste in Analogie zur französischen Literaturgeschichte freilich besser als «klassischer» Stil bezeichnet werden. Wollte man ihn dingfest machen, so spielten sicherlich unzählige Aspekte zusammen und es wäre ebenso müßig wie vermessen, eine einfache Formel für diesen Stil finden zu wollen. Von den in französischer Musik omnipräsenten agréments über Gattungen, rhythmische Besonderheiten, Eigenheiten der Aufführungspraxis (wie die berühmten notes inégales) das Instrumentarium bis hin zur Notation: viele Momente spielen zusammen und konstituieren einen Stil. In den folgenden Ausführungen geht es ausschließlich um harmonische und kontrapunktische stilistische Merkmale, die, wie mir scheint, bislang noch nicht recht zur Geltung gebracht worden sind.
Stildebatten haben indes eine eigentümliche Stellung inne. Nachdem der Diskurs um die Stilfrage in den Jahrzehnten nach 1900 in der deutschsprachigen Musikwissenschaft einen gewissen Boom erlebt hatte, hat spätestens seit den 1970er-Jahren eine Skepsis Einzug gehalten, die heute zu einem weit verbreiteten Stilnominalismus geführt hat [1]. Die Opposition zwischen italienischem und französischen Stil aber ist in der Musik der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine die ästhetische Debatten der Zeit derart dominierende Konstante, dass sich Musikforschung der Stilfrage nicht verschließen darf. Hilfreich könnten sich hierfür in Bezug auf unseren Fokus – die Harmonik und den Kontrapunkt – neuere Ansätze der Satzmodell-Theorie (englisch: schemata) erweisen. In der englischsprachigen Forschung spielt der Stilbegriff in diesem Zusammenhang nach wie vor eine zentrale Rolle, etwa in Robert O. Gjerdingens einflussreichem Buch Music in the Galant Style (Oxford 2007). Gjerdingen verknüpft die Frage des Stils mit Schemata – also mit präformierten satztechnischen Modellen, deren Vorkommen bzw. bewusste Anwendung vonseiten der Komponisten signifikant und konstitutiv für historisch Stile angesehen wird.
Ich möchte diesen Ansatz hier aufgreifen, um mithilfe von Satzmodellen einige harmonische und kontrapunktische Charakteristika des «klassischen» französischen Stils herauszustellen.
Ein Satzmodell zeichnet sich nach meinem Verständnis durch folgende Kriterien aus:
- Konfigurationen mit wiederkehrenden und wiedererkennbaren Merkmalen lassen sich als Satzmodelle beschreiben.
- Sie können charakteristisch für ein Einzelwerk, einen Personalstil, einen Nationalstil, eine Epoche oder auch eine Musikkultur sein.
- Die als Satzmodelle beschreibbaren Konfigurationen sind Gerüstsätze, die unterschiedlich diminuiert und umgesetzt werden können.
- Satzmodelle können Varianten bilden, Familien ausbilden und untereinander verwandt sein.
- Satzmodelle funktionieren variabel: Basslinie, Fundamentalbass, Außenstimmen oder auch nur Oberstimmen können konstitutiv sein.
- Satzmodelle können eine formale Funktion haben.
- Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sind die meisten Satzmodelle in die durmoll-tonale Harmonik eingebettet und lassen sich konkreten Stufen zuordnen.
Die Forschung hat bislang spezifische Satzmodelle des «klassischen» französischen Stils der Barockzeit erstaunlicherweise kaum zur Kenntnis genommen oder sogar verkannt: So bezeichnet Wilhelm Seidel [2] den Akkord der quinte superflue, einen über der dritten Skalenstufe in Moll befindliche Klang mit übermäßiger Quinte, großer Septime und None (der in so gut wie allen französischen Generalbasstraktaten beschrieben wird und auch bei Rameau eine zentrale Rolle spielt [3]) als «seltsames Beispiel». Der Grund dieser Fehleinschätzung scheint darin zu liegen, dass Seidel in seiner Darstellung der französischen Musiktheorie die Generalbasstraktate komplett ausklammert, die doch alle wesentlichen Informationen über harmonische Eigentümlichkeiten enthalten. Étienne Denis Delair stellt in seinem Traité d’accompagnement (Paris 1690) besondere Klänge in einer Liste von «accompagnements extraordinaires» vor, darunter auch den Klang mit übermäßiger Quinte, Septime und None. Die Kategorie des «extraordinaire» ist zusammenzudenken mit derjenigen des «goût», wenn man die Besonderheiten der französischen Musiksprache verstehen möchte. Dass die Forschung gelegentlich deren Charakteristika nicht wahrnimmt, gilt auch für Klangfortschreitungen: Ein sehr häufig anzutreffendes Modell (iv-ii-V, z. B. die Akkordfolge g-Moll, e-Moll, A-Dur in d-Moll), das unten als Armide-Modell vorgestellt werden wird, bezeichnet David Tunley als «unusual progression» und vergleicht die von ihm aufgefundene Stelle in François Couperins Tantum ergo sacramentum mit Mozarts Ave verum corpus, obwohl dort eine vergleichbare Progression überhaupt nicht vorkommt [4]. Der von mir hier vorgestellte Katalog von Satzmodellen möchte hier Abhilfe schaffen und Kriterien für den französischen Stil des Grand Siècle bereitstellen. Damit mögen die bereitgestellten Instrumente sowohl für die Analyse also auch für satztechnische Studien oder die Improvisation von Nutzen sein.