I. Einleitung
Als Sebastian Virdung 1511 in seiner [1] Musica getutscht erstmals den Versuch einer Klassifikation der Saiteninstrumente unternahm, konnte er nicht ahnen, dass noch 500 Jahre später Diskussionen darüber stattfinden würden, ob es sich bei der abgebildeten „Groß Geigen“ wirklich um ein realistisches Streichinstrument handelt und auf welchen Vorlagen es basieren könnte. [2] Der Zusatz „Groß“ scheint zumindest anzudeuten, dass das Instrument grösser als die ebenfalls beschriebene „clein Geigen“ war. Allerdings ist bei Virdung jeweils nur ein einzelnes Instrument abgebildet, so dass keine Rückschlüsse auf eine Familienbildung möglich sind.
Aber wann und wo sind die ersten grösseren Streichinstrumente, als Voraussetzung für ein Ensemble in drei bzw. vier verschiedenen Stimmlagen, entstanden und wie haben sie sich in ganz Europa verbreitet? Ian Woodfield stellte 1984 in seinem Buch The Early History of the Viol seine Hypothese von einem linearen Verbreitungsweg von Spanien über Italien in den nordalpinen Raum vor [3]. Wenn man aber einerseits die schon vor 1500 bestehende europäische Vernetzung auf verschiedenen Ebenen betrachtet [4], und andererseits die (oft nur zufällig erhaltenen) Quellen einer kritischen Betrachtung unterzieht, erscheint mir eine andere Erklärung sehr viel wahrscheinlicher: Ein um 1500 in den verschiedenen europäischen Ländern annähernd gleichzeitiges Auftreten grösserer Streichinstrumente, zur Erweiterung des spielbaren Tonraums in die Tiefe.
Ein Teil dieses Forschungsprojekts an der Schola Cantorum Basiliensis war es, Hypothesen zur Rekonstruktion eines frühen nordalpinen Viola da gamba-Ensembles zu entwickeln. Drei ausgewählte Hypothesen und deren Grundlagen werden im Folgenden vorgestellt [5]. Eine ausführliche Version dieses Artikels wird in Band 39 der Basler Beiträge zur Historischen Musikpraxis erscheinen.